Reminiszenz

Sehr geehrte Beate Bilkenroth,

bei der Betrachtung Ihres Kataloges fällt mir die Diversität Ihrer künstlerischen Aussagen sofort ins Auge. Es springt mich schier an. Und ich habe nicht das Gefühl, mich wegducken zu müssen. Denn in den Bann gezogen stelle ich mich diesem Phänomen. Und beginne mit der Erinnerung.

Ihre Bilder erzeugten frühzeitig inneres Beben und Stöhnen beim Fragen, denn die Antworten revoltierten. Grundannahmen sozialer Anteilnahme wankten. Damals hieß es bereits: „Dem Leben auf der Spur? Das Leben eine Spur. Gesäumt von Zeichen. Deren Strukturiertheit zunächst Sicherheiten gewährleistet, die das Leben an sich nicht bieten kann. Normierung, Standardisierung, Typisierung. Dadurch Vereinheitlichung, Ökonomie, Effizienz. Das Leben im Raster. Das Leben im Modul. Das Leben im Lot. Der rechte Pfad im rechten Winkel. Doch was geschah in den Köpfen derer, die der Geometrie ein Denkmal setzten? Was geschieht in den Köpfen der im geometrischen Konstrukt Agierenden? Was wird in den Köpfen deren geschehen, die auf die massiven Zeugnisse einer Epoche zurückschauen? Und was ist mit den Herzen? Urbanes Wohnen ist oft dort, wo alle alten Bäume dem Bebauungsplan zum Opfer fallen, und man danach die Straßennamen nach ihnen benennt. Erlenstraße. Kastanienallee. Buchenstraße. Lindenweg. Jägerpark….“ Mit dieser Melancholie eines Abgesanges im Hinterkopf war die Feststellung nicht weit, dass eine friedliche Koexistenz im Ballungsraum utopisch sei. „Der Mensch in der Nachbarschaft zum Wald. Baum und Beton. Und mittendrin die soziale Frage. Miteinander leben. Im Block. Raubbau und Rückbau. Konstruktion und Weggang. Die Frage nach dem Übrig-Sein. Der einzelne Mensch und die Gesellschaft. Wie viel WIR ist aushaltbar? Was geschieht, wenn das WIR immer kleiner wird. Zum ICH schrumpft? Und viele ICHs hörbar nebeneinander atmen, ohne das WIR zu spüren? Wie viel Erinnerung hält die Gegenwart aus?“

Zeitaktueller war bildnerische Position selten. Der Kontrapunkt zur Ästhetik des Normativen sei die von Ihnen geschaffene kraftvolle Stille, die dem steinernen Monument der menschlichen Schöpfungskraft das Monumentale nimmt, ohne es zu verraten oder zu verspotten. So kommentierten Rezipienten. Dem zeitlichen Kontext Raum gebend spürten Sie mit seismografischen Geschick Umgebungen des Lebens auf, die zum Zeitpunkt der Betrachtung, Bewusstwerdung und Darstellung lebensabgewandt erschienen. Menschenbilder ohne Protagonisten, die aber in ihrer trotz der Robustheit vermittelnden Gebautheit dennoch fragilen Daseinsform sehr viel mehr über diesen und seine Lebensträume erzählten, als es oftmals der Mensch selbst bzw. sein künstlerisches Abbild könne. Ihre Ausstellung WBS 70 stellte die bildnerische Transformation individueller Sichtweisen auf scheinbar banale gesellschaftlich-kulturelle Zusammenhänge dar.

Und sie gingen weiter. Die Kombination der kulturnahen Natur mit der naturnahen Kultur sollte Ihr Markenzeichen werden. Das Haus am See, das Boot am Steg, der Steg im See, der Bungalow im Grünen. Aus dem Wald und dessen städtischen Stellvertreterfragmenten wurde das Wasser. Aus der kontrastierenden Pflanze erwuchs fließend das stehende Eden in seiner archaischen Schönheit. Weder Tier noch Mensch hatten hier ihren Platz. Dafür bekamen diese einen sehr eigenen.
Seit 1998 ist bei Ihnen vieles zu Ente. Sie sahen sie. „In einem Berliner Nilpferdbecken. Welches dem Beobachter ermöglichte, das Untenrum eines Flusspferdes beim Schwimmvorgang zu beobachten und sich simultan an seinem unaufgeregten Oben zu erfreuen. Und plötzlich kam der Wasservogel. Eine Brechung. Nicht nur der Situation, sondern der Ente an sich. Spiegelungen, Doppelungen, Asymmetrien.“ Zunehmend entfernten Sie sich von der konkreten Form, die sie nun auch schon im Schlaf fertigen konnte. „Die möglichen Kontur-Farbe-Relationen waren in der Kombination der Variationen schnell ausgereizt, die Vielfalt der Kompositionen und Stile längst nicht. Und so wurde die Ente zum Objekt der Transformationen und Modulationen. Die Formate immer den Körpermaßen angemessen. Die Ästhetik zunehmend der eines Stills, also dem Innehalt einer filmischen Folge, der eines Standbildes. Das Drüber und Drunter, das Ganze und das Teil, der Nahblick und die Distanz.“ In einer Ihrer Ausstellungen schwammen „die Enten in Deckenhöhe und übereinander und auf Augenhöhe am Betrachter“, was als kleiner Verweis auf den Perspektivenreigen galt, den einzunehmen man sich einlassen musste, um die Großartigkeiten der scheinbar alltäglichen und immerdar anwesenden Begleiterscheinungen wertschätzend wahrnehmen zu können.

Und auch hier gingen Sie weiter. Ein Übertrag fand statt. Kuh und Schwein im satten Grün. Abermals die Idealisierung romantischer Vorstellungen, diesmal in der Zuspitzung einer imaginären Nutztierfreiheit im Zuschnitt eines menschenleeren Schlaraffenlandes zufrieden dreinblickender Vierbeiner. Wilhelm Busch, Max Liebermann, Thomas Ludwig Herbst oder Franz Marc brauchten die Wiederkäuer noch als Transporter für ästhetische Formentscheidungen oder Verweise sicherer Naturwahrnehmung, Sie, liebe Frau Bilkenroth, emanzipierten sich davon. Und schenken der Vision Ihre Version.

Und Sie gingen sogar noch weiter. In den Raum. Ins Objekt. Nilpferde. Under the waterfront. Blick unter das Ruderboot und unter die Enten. Erneut diese. Später Hasen und Hirsche. Als Trophäen für „über den Kamin“. Materialmix. Mixedmedia. Und Sie blieben sich treu! Was bei anderen als säuselndes Todesurteil im Sinne künstlerischer Stagnation beziehungsweise eines Festzurrens bewährter Kanons gemeint wäre, ist bei Ihnen als mutiges Statement antipodischen Schaffens zu verstehen. Die fotorealistische Welle großformatiger Kanzleigemälde verheimatet sich deutschlandweit immer mehr, Symbole hinterschwarzwäldlerischer Gemütlichkeiten sind inzwischen zum Mainstream populistischer Marktschreier und nach Einzigartigkeit heischender Konsumenten geschrumpft. Umso wohltuender heben sich da Ihre mit großer Geschicklichkeit und überbordender Beobachtungsgabe erzeugten Werke ab, die mit ironischer Brechung dem bürgerlichen Kunstkaiser Nacktheit attestieren.

Ich bin gespannt auf die nächsten Schritte Ihrer Forschungs- und Entdeckungsreise und freue mich schon heute auf die Betrachtung derer Resultate.

Mit freundlichen Grüßen verbleibt Ihr Ralf Seifert